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Empfehlungen der Aidshilfe Hessen für einen besseren Schutz von LSBTIQ*-Geflüchteten

Stellungnahme anlässlich des Weltflüchtlingstages 2021
Seit 2017 unterstützen die Aidshilfen in Hessen lesbische, schwule, bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche und queere Menschen, die aufgrund der Verfolgung ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität im Herkunftsland nach Deutschland geflohen sind, durch Beratung und Begleitung bei der Klärung ihrer Aufenthaltsperspektive und bei ihren Integrationsbemühungen. Gegenwärtig erhalten hessenweit ca. 280 Personen durch das Aidshilfe-Projekt „Rainbow Refugee Support“ (RRS) Hilfe.
Ermöglicht wird das Projekt durch die Förderung des Landes Hessen. Die Sozialarbeit für die Betroffenen stellt sich als besonders komplex dar, da diese oftmals von zahlreichen Belastungen zugleich betroffen sind z. B.:
- Traumatisierung aufgrund von Erfahrungen im Herkunftsland, auf der Flucht oder im Aufnahmeland,
- Probleme, die aus der Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen/geschlechtlichen Identität resultieren,
- strukturelle Hindernisse, die es erschweren, den eigenen Schutzanspruch in Deutschland zu realisieren,
- Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften, die für Angehörige vulnerabler Gruppen nicht adäquat sind,
- Auseinandersetzungen mit Mitbewohner*innen bis hin zu Gewalterfahrungen,
- Diskriminierung aufgrund von Herkunft, sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität auch in Deutschland,
- Probleme, notwendige gesundheitliche Versorgung zu erhalten, etwa bei Menschen mit trans*-Identität im Transitionsprozess oder mit einer HIV-Infektion oder psychischen Erkrankungen lebenden Geflüchteten.
Als unterstützend, konstruktiv und belastbar erleben wir die Zusammenarbeit mit dem Land Hessen, den Regierungspräsidien, Ansprechpartner*innen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), den Mitarbeiter*innen in der Erstaufnahme und vielen Kommunen. Ohne die finanzielle Unterstützung durch das Land wäre die Beratungsarbeit im angebotenen Umfang nicht leistbar. In Ministerien, Behörden und vor Ort in den Einrichtungen nehmen wir eine große Offenheit der engagierten Mitarbeiter*innen wahr, sich mit den Problemen von LSBTIQ*, die nach Deutschland geflohen sind, auseinanderzusetzen und spezifische Hilfen zu realisieren. Eine wichtige Entlastung stellt die Schaffung der Gemeinschaftsunterkunft „La Villa“ für LSBTIQ*-Geflüchtete durch Stadt und Aidshilfe Frankfurt dar. Zugleich stellt sich immer wieder die Herausforderung, Behördenmitarbeiter*innen für die Problematik „Flucht aufgrund Verfolgung der sexuellen Orientierung/geschlechtlichen Identität“ zu sensibilisieren.
Bundes- und europaweit sind die Mitarbeiter*innen des Rainbow Refugee Support mit Aktiven aus Forschung und Advocacy vernetzt. An Konferenzen des „SOGICA“ Netzwerks (Sexual Orientation and Gender Identity Claims of Asylum: A European human rights challenge) haben sich Vertreter*innen des RRS beteiligt. Die aus der Arbeit von SOGICA abgeleiteten 30 Empfehlungen zur Verbesserung der Lebenssituation von LSBTIQ* Geflüchteten unterstützen wir. Der RRS kooperiert zudem eng mit dem Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) – so nehmen zum Beispiel geflüchtete LSBTIQ*-Aktivist*innen aus Hessen an den bundesweiten Vernetzungstreffen von „Queer Refugees Deutschland“ teil.
Anlässlich des diesjährigen Weltflüchtlingstages ist es uns überdies ein Anliegen, auf typische Problemlagen der von uns beratenen Menschen hinzuweisen. Sie leiten sich aus der alltäglichen Arbeit für diese Menschen ab und lassen sich vier Themenbereichen zuordnen:
I. Erkennen von besonderem Schutzbedarf
Die schnellen Asylverfahren und die Unterbringung in einer Massenunterkunft führen bei einer großen Zahl von LSBTIQ*-Geflüchteten dazu, dass sie sich gegenüber den am Verfahren beteiligten Behörden nicht zu erkennen geben. Oft haben sie dann auch nicht die Möglichkeit, mit einer für ihre Problematik spezialisierten Beratungsstelle Kontakt aufzunehmen. In den Asylverfahren hat dies zur Folge, dass diesen Geflüchteten die besonderen Verfahrensgarantien nicht zuteilwerden, die ihnen laut EU Richtlinie zustehen. Zum Beispiel weil sie es nicht vermögen, im Vorfeld ihrer Anhörung eine*n Sonderanhörer*in zu beantragen. Wir sehen, dass dadurch die Chancen auf eine Anerkennung der Asylanträge durch das BAMF erkennbar schlechter sind. Ablehnungen der Asylanträge ziehen dann langwierige Klageverfahren nach sich, die die Integration der Geflüchteten hemmen. Für Anhörer*innen ist es schwierig, im Gespräch die dafür nötige Atmosphäre zu schaffen, damit Personen, in deren Herkunftskulturen offenes Sprechen über abweichende sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität tabuisiert ist, sich bezüglich der darauf bezogenen Fluchtgründe öffnen können. Daher ist es sinnvoll, dass die Anhörungen von LSBTIQ* auch wirklich durch sensibilisierte Sonderanhörer*innen durchgeführt werden. Die Maßnahmen zur Identifizierung vulnerabler Personen im Rahmen der Unterbringung reichen nicht dazu aus, die in der EU-Verfahrensrichtlinie und im deutschen Asylrecht verankerte besondere Schutzbedürftigkeit Betroffener zu erkennen. In der Folge kann es geschehen, dass nötige Aktivitäten zu ihrem besonderen Schutz unterbleiben.Empfehlungen:
- Wir begrüßen das in Hessen eingeführte Erstinformationsgespräch für Asylsuchende. In diesem, allen Asylbewerber*innen zugänglichem Angebot, wird auch auf externe Beratungsangebote für LSBTIQ*-Geflüchtete hingewiesen. Wir fordern, die Form des Gespräches anzupassen, damit die darin anzusprechende Themenfülle ihren Raum findet. In diesem Gespräch bestünde die Möglichkeit der proaktiven Ansprache von LSBTIQ*-Geflüchteten. Zudem wünschen wir uns, im EfA explizit darauf hinzuweisen, dass Diskriminierung gegenüber LSBTIQ* in Deutschland und auch in der Erstaufnahme nicht erwünscht ist und entsprechende Handlungen geahndet werden.
- Sichtbarkeit schaffen – in den Hessischen Erstaufnahmen und den Gebäuden des BAMF – am Standort Gießen und den Außenstellen soll Solidarität mit LSBTIQ*-Personen sichtbar gemacht werden; zum Beispiel dadurch, dass weiterhin entsprechende Plakate ausgehangen werden.
- Es sollten regelmäßige Schulungen der Anhörer*innen des BAMF, der beteiligten Dolmetscher*innen, der Securitymitarbeiter*innen und Sozialarbeiter*innen in den Einrichtungen zum sensiblen Umgang mit LSBTIQ*-Geflüchteten etabliert werden. Anhörer*innen des BAMF benötigen insbesondere eine Schulung, die ihnen die Vielfalt von Ausprägungen sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität näherbringt und westlich geprägte Stereotype von LSBTIQ* relativiert, um angemessen über den Schutzanspruch entscheiden zu können. Dolmetscher*innen benötigen darüber hinaus Fortbildung in Bezug auf das im Zusammenhang mit LSBTIQ* stehende Vokabular. Die Sensibilisierung und Qualifizierung von Securitymitarbeiter*innen und Sozialarbeiter*innen ist vor allem wichtig, da sie potentielle Ansprechpartner*innen in den Unterkünften der Geflüchteten sind und bei Gewaltsituationen eingreifen müssen.
II. Unterbringung
Die Unterbringung von LSBTIQ*-Geflüchteten in Massenunterkünften wie den Hessischen Erstaufnahmen und den regulären Gemeinschaftsunterkünften der Kommunen ist aus unserer Sicht immer problematisch, da davon auszugehen ist, dass sie sich dort in einem homophob geprägten Umfeld durch einen Teil der Mitbewohner*innen befinden. Sie werden so zu Anstrengungen gezwungen, ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität zu verstecken. Die Gefahren, Re-Traumatisierung zu erleiden und Opfer von psychischer oder physischer Gewalt zu werden, sind sehr hoch.
Empfehlungen:
- Besseren Zugang zum „Rainbow Refugee Support“ schaffen – durch regelmäßige Beratung in der Erstaufnahme, um vor Ort in einem diskreten Rahmen aktiv Unterstützung anbieten zu können.
- Realisierung der im Annex 1 der Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften des BMFSFJ vorgeschlagenen Maßnahmen.
- Schaffung weiterer spezifischer Gemeinschaftsunterkünfte nach dem Vorbild des Frankfurter Safe House für LSBTIQ*-Geflüchtete „La Villa“.
III. Keine Berufung auf das sog. Diskretionsgebot
Noch immer sehen wir Fälle, in denen das BAMF die Rechtsprechung zum sog. „Diskretionsgebot“ nicht beachtet. Dann werden Prognosen über die zukünftigen Verhaltensweisen der Geflüchteten nach einer potenziellen Rückkehr angestellt. Wird dabei angenommen, dass eine Person nach der Rückkehr geheim leben würde, wird dementsprechend von einer geringen Verfolgungswahrscheinlichkeit ausgegangen und der Antrag abgelehnt. Auch LSBTIQ*-Geflüchteten, denen geglaubt wird, dass sie ihre sexuelle Orientierung offen leben wollen, wird zugemutet, in ihren Herkunftsländern ihre Sexualität ‚diskret‘ zu leben, also zu verheimlichen. In anderen Fällen erleben wir, dass das BAMF LSBTIQ*-Asylbewerber*innen unterstellt, dass sie ihre Orientierung oder Identität gar nicht offen leben wollten. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss die eindeutige europäische Rechtsprechung hierzu noch einmal bestätigt und gleichzeitig bekräftigt, dass der Verweis auf die vermeintliche Möglichkeit diskreten Lebens auch mit Bezug auf Bisexuelle unzulässig ist: Demnach wäre es vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schlechthin unvertretbar und würde die Willkürschwelle überschreiten, wenn einem bisexuellen Asylsuchenden gem. § 3e AsylG asylrechtlicher Schutz unter Verweis auf die Möglichkeit, seine homosexuelle Orientierung im Herkunftsstaat geheim zu halten, versagt werden würde.
Empfehlung:
- Keine Ablehnung von Schutzersuchen aufgrund der fiktiv angenommenen Möglichkeit auf persönliche Sicherheit im Herkunftsland, die auf der Verheimlichung der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität beruhen würde.
IV. Medizinische Versorgung adäquat gestalten: das Beispiel der Situation von Geflüchteten mit trans*-Identitäten
Die medizinische Versorgung wie auch die Unterbringung von Menschen mit trans*-geschlechtlichen Identitäten im Rahmen des Asylverfahrens ist keine einfache, je nachdem, wie weit die Person in ihrer Transition fortgeschritten ist. Auch hier spielt die Identifizierung eine große Rolle. Menschen mit trans*-Identitäten können sehr sichtbar in der Öffentlichkeit sein. Wenn sie sich bereits entschlossen haben, ihr Geschlecht zu zeigen und zu leben, kleiden sie sich spätestens bei Ankunft in den Erstaufnahmen ihrer geschlechtlichen Identität entsprechend und fallen so unter Mitbewohner*innen als trans* auf. Damit rufen sie bei dem Aufeinandertreffen mit Geflüchteten ihrer Herkunftskultur oft Rassismen und Diskriminierung hervor, und das Spießrutenlaufen setzt sich aufgrund ihrer Sichtbarkeit extremer fort als im Heimatland. Zudem müssen sie sich Zimmer und Bad häufig mit dem Geschlecht teilen, dem sie offiziell zugewiesen werden. Gerade bei gemeinsamer Badnutzung ruft dies große Scham hervor, wenn der offizielle Geschlechtseintrag nicht mit der geschlechtlichen Identität der Person übereinstimmt.
Mit der Hormontherapie haben viele trans*-Personen schon vor der Ankunft in Deutschland begonnen. Wird diese unterbrochen, kann dies schwerwiegende Folgen für Körper und Psyche haben. Ohne festen Aufenthaltsstatus wird ausschließlich akute medizinische Versorgung gewährleistet. Eine Hormontherapie wird nur trans*-Personen gewährt, die glaubhaft nachweisen können, dass sie Hormone bereits zuvor genommen haben und um welche Medikation es sich handelte. Viele trans*-Personen geraten in Panik, wenn sie sich in der Situation wiederfinden, dafür kämpfen zu müssen, ihre notwendigen Medikamente zu bekommen. Oft sind ihnen die Regularien zur Transition in Deutschland gar nicht verständlich.
Empfehlung:
- Unterbringung von Geflüchteten mit trans*-geschlechtlichen Identitäten in eigenem Wohnraum/Schutzraum außerhalb der Erstaufnahme. Zugang und Kostenübernahme der medizinisch notwendigen Hilfen für Geflüchtete mit trans*-Identitäten, auch dann, wenn die Hormontherapie im Herkunftsland noch nicht begonnen wurde.
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